Theresia ist 88 Jahre alt und möchte sterben. Doch ihr Wunsch will einfach nicht in Erfüllung gehen.
Seit Minuten schon ruht ihr müder Blick auf dem hellen Beige der Kastentür. Auf einem kleinen Schild ist dort ihr Name zu lesen. Es ist bereits Abend, das Zimmer wird nur mehr von technischem Licht erhellt. Kümmerlich liegt sie da. In den vergangenen Wochen schon hatte sie einiges an Gewicht verloren. Sie atmet sehr schwer. Theresia hat sich entschlossen zu sterben. Und ihre Familie, die in diesen Abendstunden rund um ihr Bett im Krankenhaus versammelt ist, scheint fast zu glauben, dass ihr Wunsch bereits heute in Erfüllung gehen könnte. Von ihnen, ihren beiden Kindern und Schwiegerkindern sowie den Enkeln und Urenkeln, nimmt sie bewusst kaum Notiz. Da liegt sie, diese kleine alte Frau mit den silbrig-bläulichen Haaren. In Wahrheit möchte sie einfach nur die Augen schließen und nicht mehr aufwachen. Sogar die letzte Ölung hat sie bereits bekommen. Genau so wie sie es sich gewünscht hat. Es wäre also alles bereit. Doch die Ärzte geben ihr keine Chance.
Es war der überraschende Tod ihrer Schwester Maria, der in Theresia diese Todessehnsucht wieder einmal entstehen hat lassen. Maria war noch halbwegs mobil und unterwegs, hat Theresia auch meist einmal pro Woche besucht. Wenn man sie gemeinsam sah, bemerkte man sofort, dass man es mit einem ungleichen Paar zu tun hatte. Maria, die Flotte, irgendwie auch die Wilde, die Ungestüme. Und Theresia, die Ruhige, die Besonnene, die Grimmige, die Schweigende.
An diesem einen Tag wartet sie schon auf Marias Besuch. Wie immer sitzt sie auf ihrem Stuhl am grünen Esstisch. Von dort empfängt sie Besuch, dort isst sie ihr „Essen auf Rädern“. Mit ihrer Box voller Medikamente, einem Krug Wasser und einer Kanne Tee gibt dieser Tisch jeden Tag das gleiche Bild ab. Es ist Marias Sohn, der Theresia anruft um ihr zu erzählen, dass Maria gestorben sei. Eigentlich war es der Plan, dass Maria ihrer Schwester, so wie all die Jahre zuvor, die Dauerwelle macht, doch stattdessen ist sie tot umgefallen. Ein rascher, ein „schöner Tod“, wie Theresia immer zu sagen pflegt. So einen Tod wünscht sie sich auch, schon seit Langem.
Immer noch ein Tabuthema
Und sie ist nicht allein mit diesem Wunsch. Bei einer groß angelegten Umfrage gaben 4,6% der Menschen über 60 in Nord- und 8,5% in Südeuropa an, einen passiven Todeswunsch zu verspüren. In Südeuropa waren es fast doppelt soviele. Passiv bedeutet in diesem Zusammenhang die Hoffnung, am nächsten Morgen einfach nicht mehr zu erwachen. Trotz allem ist es diese Todessehnsucht, dieser Todeswunsch im hohen Alter immer noch ein Tabuthema, dass sowohl Betroffene, Ärzte als auch Angehörige ratlos zurücklässt.
Die Geschichte von Theresias Lebens hört man am Land wahrscheinlich häufig: Theresia wurde 1927, mitten in der Zwischenkriegszeit, geboren und wuchs in einer Großfamilie auf einem Bauernhof auf. Nach dem Krieg hat sie Johann kennen- und lieben gelernt. Er heiratete sie, nachdem er erst Jahre nach Kriegsende aus russischer Gefangenschaft zurückgekehrt war. Drei Kinder entstanden aus dieser Liebe, ein Sohn starb Anfang der 80er bei einem Autounfall. Mitte der 90er begannen bei Johann die Demenz- und Parkinsonerkrankung. Kurze Zeit später wurde er zum Pflegefall.
Theresia hat ihn über sechs Jahre gepflegt, war immer an seiner Seite. Als die beiden damals in Pension gingen, haben sie sich schon auf die Ausflüge mit dem Seniorenbund gefreut. Doch aufgrund Johanns Erkrankung verzichteten sie darauf. Als er schließlich starb, war auch sie bereits so gebrechlich, dass sie nur ein oder zwei Ausflüge mit den Senioren machen konnte. Als sie aufgrund ihrer Augenerkrankungen auch noch das Autofahren aufgeben musste, sah sie ein, dass sie in Zukunft bevorzugt zuhause sein wird.
In ihrem Wohnzimmer erscheint einzig der Flachbildfernseher aus der Zeit nach dem Jahrtausendwechsel zu stammen. Alle Holzmöbel in diesem Raum hat Johann selbst zusammengezimmert. Sie wirken schön und passend, aber eben doch etwas aus der Mode. Am Regal neben dem Fernseher stapeln sich die Gratiszeitungen und Werbungen. Theresia blättert sie normalerweise nur noch durch. Schon vor Jahren hat sie den Versuch aufgegeben, wirklich zu lesen. Damals, als ihre Sehkraft durch den grünen Star am linken und den grauen Star am rechten Auge eingeschränkt wurde. Seit dem Tod ihrer Schwester hat sie jetzt sogar aufgehört, langsam und bedächtig durchzublättern und sich zumindest die Bilder anzusehen. Sie wischt sich nur mehr hin und wieder mit einem Seidentaschentuch Feuchtigkeit aus ihren Augen, eine Nebenwirkung ihrer Augenerkrankungen.
Für andere eine Last
Es sind Faktoren wie diese, die mit dem Todeswunsch in Verbindung gebracht werden. Neben körperlicher Beeinträchtigung (Schmerz, funktionelle Abhängigkeit), psychiatrischen Erkrankungen (Depressionen) und sozialen Faktoren spielen auch Verzweiflung, Angst vor einem langen Leiden und dem Gefühl, für andere eine Last zu sein oder zu werden eine Rolle, warum sich der Todeswunsch mehr und mehr verfestigt und zum bestimmenden Thema wird.
So auch bei Theresia. „Ich würd’ ja keinem abgehen, wenn ich nicht mehr wär’. Wem bringe ich denn noch was?“, sagt sie regelmäßig zu ihren Verwandten, wenn sie Besuch hat. „Damit versucht sie Aufmerksamkeit zu bekommen“, erklärt ihre Tochter und hört sich damit zwar böse an, meint es aber nicht so. Es fällt ihr immer schwerer, mit ihrer Mutter normal zu kommunizieren. Auf die Frage, wie es ihr gehe, schüttelt sie nun nur mehr den Kopf. Sie erzählt dann von ihren Schmerzen und dass sie niemand mehr besucht. Und sie fragt sich, warum sie nicht auch endlich sterben dürfe. In Wahrheit bekommt sie sogar relativ häufig Besuch, aber ihr Tag ist lange. Vor allem, wenn die Schmerzen in den Beinen sie frühmorgens aufwecken und ihr Tag erst nach einer Volksmusiksendung endet.
Einer ihrer Enkel hat sogar vor einigen Jahren das obere Stockwerk mit seiner Familie (seiner Frau und seinen zwei Söhnen) bezogen. Aber für sie wird der Besuch trotzdem deutlich weniger. Denn eine Besucherquelle versiegt immer mehr: Ihre Freundinnen und Bekannte, die Menschen in ihrem Alter. Kamen diese früher zum Teil noch wöchentlich vorbei, bekommt sie nun irgendwann eine Trauerparte überreicht und legt sie in die Schublade am Esstisch, wo sie diese bereits seit Jahren sammelt und immer mal wieder durchsieht.
Die Toten haben schon immer einen großen Platz eingenommen in ihrem Leben. Beinahe wie ein Altar sieht sie aus, die Ecke in Theresias Wohnzimmer, wo sie Bilder von ihrem Mann, ihrer Schwägerin, ihrem Sohn und auch ihrem plötzlich verstorbenen Urenkel aufgehängt hat. Darunter eine Kerze auf einem alten Spitzendeckchen, umrandet von einer Rosenkranzkette. Immer mal wieder zündet sie die Kerze an. Es wirkt wie ein hilfloses Vermissen, eine Sehnsucht nach Wiedersehen und ein qualvolles Erinnern. Ein Verharren in einem Gefühl, das sich schon seit Jahren wie eine Depression anfühlt und mit jedem weiteren Todesfall stärker wird.
Eine Form von Lebensverweigerung
Neben Demenz sind depressive Störungen im Alter die häufigste psychische Erkrankung. Zu den Symptomen zählen u.a. eine „Neigung zu ängstlicher Klagsamkeit“, körperbezogene Klagen oder auch selbstdestruktives Verhalten, das meist in eine Form der „Lebensverweigerung“ mündet, in Rückzug, Regression und vollkommener Antriebslosigkeit.
Theresia wird immer schweigsamer. Manchmal sitzt sie da, blickt auf den Boden oder auf den Tisch, hat den Fernseher im Hintergrund laufen und reagiert kaum mehr auf Fragen, die man ihr nach und nach immer seltener stellt. Wer keine Antworten erwarten kann, braucht sich auch um keine Fragen bemühen. Sie baut mehr und mehr eine Mauer auf. Niemand versteht sie, versteht ihre Sehnsucht nach dem Tod, versteht die Schmerzen, die sie durchleidet. Und damit ihre Familie nicht immer versucht, mit falschen aufmunternden Worten zu kommen, zieht sie sich zurück. Sondert sich ab. Und sie atmet bevorzugt tief ein und aus, um ihr Leiden zu unterstreichen.
Besucht man Theresia spürt man bereits beim Eintreten eine depressive Stimmung, die noch lange anhält, wenn man sie bereits wieder verlassen hat. Was soll man zu einem Menschen sagen, der die Angst vor dem Tod verloren hat, und sich stattdessen viel mehr nach ihm sehnt? Der sein Soll auf dieser Erde erfüllt sieht und den großen Wunsch hat, auf die andere Seite zu wechseln? Sie ist mürrisch, schweigsam, teilweise sogar bösartig und vertieft dadurch die Gräben immer tiefer, die zwischen ihrer Tochter und ihr bereits seit Jahren oder Jahrzehnten bestehen.
Gott hat sie vergessen
Es war der Unfalltod ihres Sohnes, Herbert, der das Leben für alle schwerer machte. Während sich andere Menschen nach einer solchen Tragödie vom Glauben abwenden, begann Theresia sich erst so richtig in ihren Glauben zu vertiefen. Sah in allem Gottes Sinn und Gottes Liebe. Auch in den schlimmen Zeiten ihres Lebens. Während ihre Tochter mehr und mehr an dem am Land so üblichen Glauben und Gott zweifelte, sah Theresia in ihm die Antwort auf alle Fragen. Das war der Beginn einer gewissen Entfremdung. Nicht nur von ihrer Tochter, sondern auch von ihrem Mann.
„Warum hat er jetzt auf mich vergessen?“, fragt sie. Wie konnte Gott gerade auf sie vergessen, wo sie ihm doch immer vertraute. Wo sie doch in allem Sinnlosen seinen Sinn zu sehen bereit war. Theresia erinnert dabei an Mendel Singer, den schicksalsgebeutelten gläubigen Juden aus Joseph Roths „Hiob“, der sich nach unerträglichen Schicksalsschlägen und Qualen von seinem Gott abwendet, bis ein Wunder ihn schließlich wieder zurückholt. Nur für Theresia scheint es kein Wunder geben zu können. Deshalb muss sie es selbst in die Hand nehmen.
Aber an Selbstmord hat sie dabei nie gedacht. Ihr Wunsch soll nicht unnatürlich durchgeführt werden, mit Tabletten, einem Messer oder einer Pistole. Er solle auf natürliche Weise passieren, einfach eintreten, wie ein Schlaganfall, nur eben intensiver und tödlicher. Vor allem Gott würde es nicht gerne sehen, wenn sie sich selbst etwas antun würde.
Ein stiller Suizid
Doch: In Deutschland sind knapp 40 % aller Suizidenten älter als 60 Jahre, und da sind die „stillen“ oder „verdeckten“ Suizide noch nicht mitgerechnet: Eine bewusste Verweigerung der Nahrungsaufnahme, das „Vergessen“ einer Medikamenteinnahme oder deren Überdosierung führen genauso zum Tod, werden aber von Ärzten bei alten Menschen oftmals als natürliche Tode angenommen und so in den Totenschein eingetragen.
Theresia hat es versucht, ohne zu wissen, dass es sich dabei um einen „stillen Suizid“ handelt. Irgendwann hat sie aufgehört, regelmäßig zu essen, und wenn, dann nur ein paar Löffel Suppe. Der Fernseher, der normalerweise ständig läuft, um die Zeit zwischen Besuchen zu überstehen, bleibt ausgeschaltet. Niemand kann ihr gut zureden, kann sie überzeugen, ihr Körper spürt die Belastung. Theresia wird schwächer, ihre Angehörigen hilfloser, bis sie irgendwann den Wunsch äußert, ins Krankenhaus gebracht zu werden. Sie wolle jetzt sterben. Es sei soweit, sagt sie.
Nach einem Anruf ihrer Schwiegertochter erscheint eine halbe Stunde später der Hausarzt. Er untersucht sie, spricht mit ihr, und zum ersten Mal seit langem wirkt sie hoffnungsvoll. Etwas mehr Leben ist in ihre Stimme zurückgekehrt: Endlich ist da einer, der vielleicht verstehen kann, wie sie sich fühlt. Der vielleicht ihrem Todeswunsch kein Kopfschütteln, sondern Verständnis entgegenbringt. „Sie sehen nicht gut aus, Frau Huber“, sagt er und erfüllt Theresia mit den folgenden Worten zumindest einen kleinen Wunsch: „Sie kommen jetzt erstmal ins Krankenhaus.“ Ein paar Minuten später erscheint der Rettungswagen in der Einfahrt, die Tasche für das Krankenhaus steht – wohl aufgrund des Alters – schon bereit.
Viel zu gesund
Am nächsten Morgen hängt über Theresias Bett ein Schild. Die Angehörigen sollen sich beim Arzt melden. Die Krankenschwestern, immer aktiv, holen ihn rasch, als Theresias Kinder die Diagnose hören wollen. In Erwartung des Schlimmsten sind die Worte des Doktors schließlich wie eine Erlösung. Theresia werde nicht sterben, nicht jetzt, nicht heute. Sie ist, trotz aller Beschwerden, noch viel zu gesund. Ihre Überzeugung, jetzt sterben zu wollen, sei rein auf ihre Psyche, auf ihre anhaltende Depression zurückzuführen. Es gäbe Medikamente, Psychopharmaka. Man könnte es versuchen.
Theresia ist 88 Jahre alt und möchte sterben. Vielleicht muss sie noch darauf warten, bis auch ihre Familie die Angst vor dem Tod verliert. Bis man sie gehen lassen kann. Vielleicht aber schläft sie auch irgendwann einmal ein und wacht nie wieder auf. So, als wäre ihr unbändiger Wunsch in Erfüllung gegangen. Als würde Gott endlich versuchen, sie zu besänftigen. Sie würde ihm dafür danken. Und vielleicht kann sie ihr jetziges Leben auch wieder akzeptieren und noch ein paar glückliche Jahre erleben.
Information: Diese Reportage entstand im Juli 2015 im Rahmen einer Lehrveranstaltung mit Markus Huber an der FH Wien der WKW. Das Überthema, aus welchem wir unsere Idee entwickeln konnten, war „Traum“. Ich habe mich mit dem Traum zu Sterben beschäftigt. In der Nacht von 1. auf 2. Dezember 2015 ist Theresia schließlich gestorben. Wie man schon vermuten kann, handelt die Reportage von meiner eigenen Großmutter. Zwischen ihrem Wunsch zu Sterben, der sich vor allem im Jahr 2014 manifestierte und ihrem Tod lagen noch glückliche Monate. Sie hatte wieder etwas Lebensfreude zurückgewonnen. Aber dann war es plötzlich Zeit, und sie hat gewartet, bis alle bereit waren, sie gehen zu lassen.
9 Antworten auf „Endstation Todessehnsucht“
Ich glaube, es war García Márquez, der sagte: Man stirbt nicht, wenn man muss, sondern wenn man kann.
Denkwürdiges Zitat.
Kann magguieme nur zustimmen: Das ist ein sehr passendes, kluges Zitat. Vielen lieben Dank, Trippmadam!
Sehr gelungen, finde ich. Ein wichtiges Thema, das auch bei uns aktuell ist. Interessant, dass ich beim Lesen über andere mehr Ideen für Ansprache habe, als in der direkten Situation.
Vielen lieben Dank für das Lob!
[…] Endstation Todessehnsucht – dominikleitner.com […]
Sehr gut geschrieben, die Kombination aus Emotion (eigene Großmutter) und Information ist genial!
Wäre ewig schade gewesen diesen Text nicht zu veröffentlichen! Passt gerade sehr gut, weil ich am 06.07.2016 selbst erstmalig einen sterbenden Menschen verabschiedet habe.
Vielen lieben Dank! Ja, der Text lag nicht nur monatelang auf meiner Festplatte, sondern auch auf meinem Herzen. Ich bin froh, ihn jetzt veröffentlicht zu haben. Tut mir Leid für dich, dass du selbst jemanden verabschieden musstest.
Gehört publiziert!