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H81.0 … und alles dreht sich

Wie es ist, regelmäßig das Vertrauen in den eigenen Körper zu verlieren und dann hart daran zu arbeiten, dieses Vertrauen wieder zurückzugewinnen. Mein Leben mit Morbus Menieré.

Wie es ist, regelmäßig das Vertrauen in den eigenen Körper zu verlieren und dann hart daran zu arbeiten, dieses Vertrauen wieder zurückzugewinnen. Mein Leben mit Morbus Menieré.

Ich stehe in der Kantine an, das Essen ist bereits auf meinem Tablett und ich warte, bis ich mit dem zahlen an der Reihe bin. Als auf einmal der Boden wegbricht und sich vor meinen Augen alles verschiebt. Ich kann mich gerade noch festhalten, weiß aber nicht genau, was meine Beine oder mein Oberkörper gerade machen wollen. Wie ein Zeitlupe falle ich gegen die Glasvitrine, hinter der der Leberkäse liegt. Ein paar Sekunden lasse ich den Kopf so liegen, atme ein, atme aus, versuche mich aufzurichten. Es gelingt mir, ich atme ein, atme aus. Noch einmal, noch einmal. Niemand hat etwas bemerkt. Ich bezahle, gehe langsam und vorsichtig zum Tisch, wo meine Kolleg*innen des Workshops sitzen. Am ganzen Körper hat sich innerhalb von wenigen Sekunden Kaltschweiß gebildet, ich versuche mir nichts anmerken zu lassen, esse zwei Bissen und habe Angst. „Ich muss kurz an die frische Luft“, sage ich, lasse das Essen zurück und hoffe, den Weg aus dem unbekannten Gebäude zu finden. Als ich es nach draußen geschafft habe, setze ich mich in den Halbschatten und rufe meine Mama an. Erzähle ihr was gerade passiert ist und wie schrecklich es war, vollkommen aus dem Nichts und dass ich jegliche Kontrolle über meinen Körper verloren hatte. Und ich bin ein Mensch, der sich das Weinen in den vielen Jahren auf dieser Welt recht abgewöhnt hat, aber da war mir echt nach heulen zumute. Was ist da bitte nur los mit mir?

Die bescheidene Diagnose

Morbus Menieré nennt sich die Erkrankung, die „los mit mir“ ist. Seit 2018 habe ich die Diagnose, nachdem ich meiner Ärztin in der HNO-Ambulanz von meiner ersten Schwindelattacke erzählte. Davor wurde ich zwar fünf Monate lang wegen meiner regelmäßigen Tiefton-Hörsturze behandelt, aber erst der Schwindel macht das Symtpom-Dreigespann dieser Krankheit aus. Meiner Freude darüber, endlich eine Diagnose zu haben und zu wissen, was mir fehlte, folgte die Ernüchterung, als ich mir, meiner Ärztin und dem Internet die Frage stellte, wie ich diese Krankheit wieder loswerde.

Ich habe in den vergangenen Jahren viel über das Innenohr gelernt – recht unfreiwillig, aber immerhin. In unseren Innenohren befinden sich Flüssigkeiten, die immer im perfekten Gleichgewicht sind und die dafür sorgen, dass unsere Innenohren so gut funktionieren, wie sie es tun. Nur manchmal, bei Morbus Menieré-Patient*innen stauen sich diese Flüssigkeiten, dehnen sich dann aus und erzeugen eben Hörverluste, Tinnitus und manchmal auch den Schwindel. Und das besonders Tolle daran ist, dass niemand genau weiß, woher diese Krankheit kommt und warum sich die Flüssigkeiten bei manchen Menschen auf einmal ausdehnen wollen.

Eine psychische Herausforderung

Seit 2017 war ich gefühlt 100 Mal bei meiner HNO-Ärztin, 50 Mal in der HNO-Ambulanz und habe auch schon die eine oder andere alternativmedizinische Sache ausprobiert – die Hoffnung stirbt ja bekanntlich zuletzt. Ich wurde am Innenohr operiert, hab regelmäßig Kortison als Tabletten und später als Injektion ins Mittelohr (recht gemütlich und mit wenig Nebenwirkungen) oder in die Vene (nicht empfehlenswert, starke Nebenwirkungen) bekommen. Und 2019, nachdem immer wieder Schwindelanfälle passierten, hat man mir erstmals den Gleichgewichtssinn betäubt. Im Februar 2020 das zweite Mal – und nicht nur hat sich zwei Wochen danach mein Gehör gefühlt grundlos deutlich verbessert, der Schwindel war auch verschwunden.

Bis Jänner 2022. Seit Anfang diesen Jahres habe ich Wochen, wo ich durchgehend einen leichten Schwindel verspüre. Über fünf Mal bin ich schon aufgewacht, um zwei Uhr früh, und hatte eine Schwindelattacke. So Daumen mal Pi waren es zwei richtige Attacken pro Monat. Anfang Mai wurde mir erneut der Gleichgewichtssinn betäubt. Die Hoffnung war natürlich groß, und obwohl das Gehör direkt nach der Behandlung besser wurde, kam der Schwindel nach 11 Tagen zurück. Eine Wiederholung ist erst in drei Monaten vorgesehen.

Ich habe zwei Jahre gebraucht, um wieder voll und ganz auf meinen Körper vertrauen zu können. Ein Anfall, und das ganze Vertrauen ist wieder weg.

Vielleicht war ich naiv, vielleicht wollte ich mich nicht damit beschäftigen, vielleicht haben mir die zwei Jahre Remission zu viel Sicherheit gegeben. Aber mir ist in diesem Jahr bewusst geworden, dass Morbus Menieré chronisch ist – und dass der Schwindel das bestimmende Ding der Krankheit ist. An Hörverlust und Tinnitus habe ich mich längst gewöhnt, für beides hatte ich mir im September 2021 sogar ein Hörgerät zugelegt, um meinen Coolnessfaktor noch etwas zu erhöhen. Aber der Schwindel hat es innerhalb kurzer Zeit geschafft, mich in diesem Jahr wieder zu einem körperlichen und psychischen Tiefpunkt zu bringen.

Zurück zum Tiefpunkt

Alles, was mir in den letzten Jahren viel Spaß gemacht hat – vor allem das Laufen – habe ich mich nicht mehr wirklich getraut, weil ich Angst davor hatte, zwischendurch eine Schwindelattacke zu bekommen. Der soziale Rückzug begann schön langsam wieder. Ich habe, alleine in der Wohnung, mit meiner Stimme die Welt, die Krankheit, den Schwindel verflucht, Polster geboxt und zumindest innerlich ein paar Tränen vergossen. Aber wenigstens war dieser Tiefpunkt ein Grund für mich, mich nach einer Überweisung zu einem*r Psycholog*in zu bitten. Weil ich endlich (mal wieder) Mann genug bin, mir einzugestehen, dass es stark ist, um Hilfe zu bitten. Dinge aufzuarbeiten. Zu reden.

Das ist auch ein Grund, warum ich diesen Beitrag geschrieben habe. Morbus Menieré ist eine relativ seltene Krankheit. Vielleicht stolpert ja die eine oder andere Person über diesen Beitrag – und beginnt auch, mit deren Umgebung offen über diese Erkrankung zu reden. Seit ich da offen damit umgehe, passt man sich an mich an und wundert sich nicht über meine ständigen Nachfragen. Und mein teilweise sehr regelmäßiges „Bitte?“ ist am Arbeitsplatz schon zu einem Running Gag geworden – was völlig okay ist, weil Humor für mich der beste coping mechanism für alles ist. (Vielleicht sollte ich darüber auch reden, wenn ich endlich den oder die beste Psycholog*in gefunden habe.) Was ich eigentlich sagen wollte: Morbus Menieré ist eine beschissene Krankheit und das darf man auch sagen. Sie macht einen schwach, nimmt einem Kraft, und so schmerzlos Hörsturz, Tinnitus und Schwindel zumeist sind, so sehr hinterlassen sie innerlich Narben, die oft spürbar jucken auf der Psyche. Seid nicht schüchtern, sondern holt euch Unterstützung, investiert in eure mentale Gesundheit und lasst euch helfen, mit allem besser umzugehen zu lernen.

Aufwärtsbewegung

Interessanterweise hat mein Kopf schon vor zwei Wochen einen Sprung nach vorne gemacht. Ich habe mir neue Laufschuhe bestellt, war laufen, war endlich wieder im Fitnessstudio – für fünf Tage war überhaupt kein Schwindel spürbar. Bis aus dem Nichts eine Attacke daherkam, als ich entspannt auf der Couch war. Ich habe mich sofort aufgesetzt, lange langsam ein und ausgeatmet und den Kopf langsam nach links und dann nach rechts fallen lassen. Wie immer war die Attacke selber recht kurz (glücklicherweise), das Abflauen hat aber wieder (auch wie immer) zwei Stunden gedauert. Und von da an habe ich mir gedacht: Ich will auf nichts mehr verzichten, nur weil ich Angst davor habe. Ich bin bereit, mich möglichen weiteren Schwindelattacken zu stellen. Vermutlich verlässt mich dieser Optimismus, sobald es mir mal wieder auf offener Straße oder in einer Kantine passiert. Aber bis dahin stelle ich mich neben meinen Schwindel und akzeptiere ihn, zumindest für jetzt, als einen Teil von mir. Den ich nicht unbedingt mag, dem ich aber auch nicht zu viel Macht geben möchte.

(H81.0 ist übrigens der Code für Morbus Menieré im IDC-10, der „internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme“)

Hier gibt es übrigens noch einen Beitrag vom Februar 2018, als die Diagnose noch nicht feststand. Wie jung und dumm ich damals noch war.

Von Dominik Leitner

Vierunddreißig Jahre, aufgewachsen in Oberösterreich; lebt, arbeitet und verliebt sich regelmäßig unglücklich in Wien – Literarische Texte gibt es hier: Neon|Wilderness

2 Antworten auf „H81.0 … und alles dreht sich“

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